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Zum Thema Arbeitsrecht
- “AGG-Hopper”: Diskriminierungsklage als Geschäftsmodell vor BAG gescheitert
- Der Bewerber hatte zwar geschrieben, dass er sich einen Umzug zum Arbeitsort vorstellen könne. Das hatte er aber auch in einer Vielzahl von anderen Bewerbungen in ganz Deutschland behauptet. Weil der Bewerber zudem nichts dazu sagte, wie er die neue Stelle mit seinem Vollzeitstudium vereinbaren wolle, waren Zweifel an der Bereitschaft berechtigt, die Stelle tatsächlich anzutreten.
- Art und Inhalt der Bewerbung wiesen keinen Bezug zur Branche oder zum Geschäft des Arbeitgebers auf, gingen nicht auf die in der Stellenausschreibung geforderten Qualifikationen ein und enthielten Rechtschreibfehler.
- Es fehlten aussagekräftige Unterlagen wie Zeugnisse und ein chronologischer Lebenslauf. Der Arbeitgeber konnte daher überhaupt nicht beurteilen, ob der Bewerber für die ausgeschriebene Stelle geeignet war. Der Arbeitgeber hatte Urteilsdatenbanken durchforstet und dabei festgestellt, dass der Bewerber sich seit Jahren immer wieder auf nur für Frauen ausgeschriebene Stellen beworben und Entschädigungen eingeklagt hatte. Allein in Berlin waren innerhalb von 15 Monaten elf Verfahren anhängig. Dabei optimierte er seine Bewerbungen im Hinblick auf die Rechtsprechung im Sinne erfolgreicher Entschädigungsklagen, ohne sie jedoch inhaltlich zu verbessern.
- Arbeitszeiterfassung für Hausangestellte: EuGH erlaubt Ausnahme nur, wenn Einhaltung der Höchstarbeitszeit anderweitig garantiert werde
- Ausländische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: Arbeitnehmer trifft volle Darlegungs- und Beweislast als Voraussetzung für Entgeltanspruch
- Ende vom Homeoffice: Rechtmäßige Anordnung der Vor-Ort-Präsenz setzt sachliches Interesse des Arbeitgebers voraus
- Leiharbeitnehmer als Streikbrecher: Klage einer Gewerkschaft scheitert an Formfehlern
Manche Kandidaten bewerben sich nicht aus Interesse an der ausgeschriebenen Stelle, sondern weil sie eine Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) einklagen wollen. Doch damit hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit der folgenden Entscheidung nun Schluss gemacht.
Ein 30-jähriger Industriekaufmann bewarb sich Anfang 2023 über die Bewerberplattform Indeed auf eine Stelle als “Bürokauffrau/Sekretärin” bei einer Ingenieurgesellschaft in etwa 170 km Entfernung von seinem Wohnort. Er gab an, sieben Jahre Erfahrung als Sekretär und in den Microsoft-Office-Anwendungen zu haben – jedoch ohne konkrete zeitliche Angaben und Nachweise zur Ausbildung und zu eventuellen Vorbeschäftigungen. Zur Zeit der Bewerbung absolvierte er in Vollzeit ein Fernstudium in Wirtschaftsrecht. Nachdem er keine Antwort erhielt und die Stellenanzeige gelöscht worden war, verklagte der Bewerber den Arbeitgeber auf mindestens 6.000 EUR Entschädigung. Er behauptete, als Mann unzulässig benachteiligt worden zu sein, weil sich die Stellenausschreibung ausschließlich an Frauen gerichtet habe. Der Arbeitgeber hielt die Forderung für unberechtigt, weil die Bewerbung missbräuchlich erfolgt sei. Dem Bewerber sei es lediglich um die Entschädigung und nicht um die Stelle gegangen.
Das BAG meinte zwar, der Arbeitgeber habe mit seiner nicht geschlechtsneutralen Stellenausschreibung durchaus ein Indiz für eine unzulässige Diskriminierung von Männern geliefert. Normalerweise hätte er daher beweisen müssen, dass die Nichtberücksichtigung des klagenden Bewerbers nichts mit dessen Geschlecht zu tun hatte, um eine Entschädigungszahlung zu vermeiden. Letzten Endes kam es aber auf eine Diskriminierung durch den Arbeitgeber nicht an, weil die Bewerbung von vornherein rechtsmissbräuchlich war. Der Bewerber ging daher leer aus. Drei Indizien sprachen laut BAG für einen Rechtsmissbrauch:
Diese systematische Vorgehensweise machte den Rechtsmissbrauch offensichtlich, so dass die Klage des Bewerbers scheiterte.
Hinweis: Das AGG ist ein wichtiger Baustein, um Diskriminierungen zu verhindern, und schafft die Grundlage für ein gerechteres Miteinander. Menschen, die dieses Gesetz ausnutzen möchten, unterfallen aber nicht seinem Schutz.
Quelle: BAG, Urt. v. 19.09.2024 – 8 AZR 21/24
zum Thema: | Arbeitsrecht |
(aus: Ausgabe 03/2025)
Wer in seinem Betrieb noch keine Arbeitszeiterfassung installiert hat, sollte sich hierüber schnell konkrete Gedanken machen. Die folgende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu einer in Spanien beschäftigten Hausangestellten zeigt, dass allen Angestellten in der EU die Möglichkeit gegeben werden muss, ihre geleisteten Arbeitsstunden nachverfolgen und eventuelle Überstunden geltend machen zu können.
In Spanien sind bestimmte Arbeitgeber – darunter Privathaushalte – von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung befreit. Als eine in Vollzeit beschäftigte Hausangestellte die Bezahlung von Überstunden erhalten wollte, scheiterte sie mit ihrer Forderung in der gerichtlich ersten Instanz, weil sie die Überstunden schlichtweg nicht nachweisen konnte. Die zweite Instanz bezweifelte daher, dass die Befreiung der Arbeitszeiterfassung mit EU-Recht vereinbar sei, und befragte hierzu den EuGH.
Der EuGH urteilte, dass nationale Regelungen zwar Ausnahmen von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung vorsehen können – beispielsweise wegen der Größe des Arbeitgebers oder dessen Tätigkeitsbereichs. Dies gelte aber nur, wenn gewährleistet werde, dass die betroffenen Mitarbeiter die wöchentliche Höchstarbeitszeit nicht überschreiten. Die hier infrage stehende spanische Regelung sei daher europarechtswidrig, denn sie nehme Hausangestellten die Möglichkeit, objektiv und zuverlässig festzustellen, wie viele Stunden sie wann tatsächlich geleistet haben. Der EuGH wies interessanterweise zudem darauf hin, dass der überwiegende Anteil von Hausangestellten Frauen sei, so dass hier auch eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vorliegen könne.
Hinweis: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung trifft nach der Rechtsprechung praktisch jeden Arbeitgeber. Verstöße können Entschädigungsklagen wegen unzulässiger Diskriminierung nach sich ziehen. Gibt es in einem Betrieb noch immer keine Arbeitszeiterfassung, ist dieses Urteil die Aufforderung, nun endlich tätig zu werden und nicht erst auf den Gesetzgeber zu warten, nur weil es gesetzlich noch keine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gibt.
Quelle: EuGH, Urt. v. 19.12.2024 – C‑531/23
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(aus: Ausgabe 03/2025)
Meist dient der Urlaub der Erholung. Oft aber kann er kränker machen, als man es vor Urlaubsantritt war. Doch Vorsicht vor einer “Urlaubsverlängerung auf Krankenschein”. Denn mit der folgenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus Tunesien hatte selbst der Arbeitnehmer, den man in Sachen “krank aus dem Urlaub zurück” als Wiederholungstäter beschreiben kann, nicht gerechnet.
Der Lagerarbeiter hatte sich bei seinem Arbeitgeber in den Jahren 2017, 2019 und 2022 jeweils im Anschluss an einen mehrwöchigen Urlaubsaufenthalt in Tunesien arbeitsunfähig gemeldet. Im Jahr 2022 teilte er seinem Arbeitgeber seine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit mit E‑Mail vom 07.09.2022 mit – zwei Tage vor dem geplanten Urlaubsende. Er fügte der E‑Mail das in französischer Sprache gehaltene Attest eines tunesischen Arztes bei. Demnach litt der Lagerarbeiter unter “schweren Ischialbeschwerden im engen Lendenwirbelsäulenkanal”. Die Verordnung sagte zudem aus, dass er 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30.09.2022 benötige. Während dieser Zeit dürfe der Mann laut Attest auch nicht reisen. Dennoch buchte der Arbeitnehmer einen Tag nach dem Arztbesuch am 08.09.2022 ein Fährticket für den 29.09.2022. An dem Tag trat er dann auch tatsächlich die Rückreise mit dem Pkw an. Der Arbeitgeber verweigerte eine Anerkennung der tunesischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Deshalb lehnte er auch eine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab. Der Arbeitnehmer verlangte daraufhin vor dem Arbeitsgericht die volle Bezahlung für den Monat September 2022 – die Sache ging bis vor das BAG.
Das Gericht urteilte, dass grundsätzlich der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hoch sei – auch aus einem Nicht-EU-Ausland. Maßgeblich sei dabei, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterscheidet. Genau hier hatte das BAG Zweifel und sah den Beweiswert der Bescheinigung als erschüttert an. Es bemängelte, dass das vorinstanzliche Landesarbeitsgericht keine Gesamtwürdigung der tatsächlichen Umstände vorgenommen hatte. Eine solche führte nun dazu, dass erhebliche Zweifel am Beweiswert der Arbeitsunfähigkeit bestanden. Diese hielt das BAG vor allem deshalb für angemessen, da sich der Lagerarbeiter auch nach vorherigen Auslandsaufenthalten arbeitsunfähig krankgemeldet hatte. Zudem hatte er seine Rückreise nachweislich bereits einen Tag vor Ablauf des Reiseverbots angetreten, die Rückreise darüber hinaus bereits kurz nach dem Besuch beim Arzt in Tunesien gebucht. Das BAG entschied daher, dass der Arbeitnehmer die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltanspruch nach § 3 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz trage. Deshalb erhielt der Arbeitnehmer kein Geld.
Hinweis: Legt ein Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus dem Ausland vor, sollten stets die Gesamtumstände genau analysiert werden. Der Fall des BAG zeigt, dass Mitarbeiter, die sich immer wieder im Ausland krankschreiben lassen, schon allein deshalb bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall leer ausgehen können.
Quelle: BAG, Urt. v. 15.01.2025 – 5 AZR 284/24
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(aus: Ausgabe 03/2025)
Was während der Corona-Pandemie noch als Zukunftsmodell der Arbeit gepriesen wurde, legt zunehmend den Rückwärtsgang ein: Arbeit im Homeoffice. Doch so einfach, wie es sich die Unternehmen oft vorstellen, ist der Weg zurück in die Vor-Ort-Präsenz nicht. So musste sich das Landesarbeitsgericht Köln (LAG) mit der Frage beschäftigen, wann und unter welchen Voraussetzungen ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer zurückbeordern kann.
Der betreffende Projektmanager arbeitete seit 2017 für seine Arbeitgeberin, ein Planungs- und Projektmanagementbüro für die Autozulieferindustrie. Er entwickelte jeweils projektbezogen nach den konkreten Anforderungen der einzelnen Kunden Industrielösungen entlang der gesamten Prozesskette – und zwar zu 80 % aus dem Homeoffice oder bei den Kunden des Autozulieferers. Nach seinem Arbeitsvertrag bezog sich sein Einsatzort je nach Projekt auf die gesamte Unternehmensgruppe, die von verschiedenen deutschen Standorten aus operierte. Dann entschied sich die Arbeitgeberin, den Standort des Unternehmens zu schließen, an dem der Arbeitnehmer grundsätzlich beschäftigt war. Sie versetzte ihn an einen 500 km entfernten Arbeitsplatz und widerrief die Erlaubnis, im Homeoffice zu arbeiten. Zugleich kündigte sie vorsorglich das Arbeitsverhältnis – verbunden mit dem Angebot, es zu geänderten Arbeitsbedingungen am neuen Standort fortzusetzen.
Das wollte sich der Arbeitnehmer nicht gefallen lassen und erhob eine Kündigungsschutzklage sowie eine Klage gegen die Versetzung. Insbesondere berief er sich darauf, dass die Arbeitgeberin statt der Änderungskündigung als milderes Mittel jedenfalls das Angebot eines Homeofficearbeitsplatzes hätte anbieten müssen.
Das sah das LAG nicht anders: Sowohl die Versetzung als auch die hilfsweise ausgesprochene Änderungskündigung waren unwirksam. Das Gericht wies darauf hin, dass die Arbeitgeberin bei der Erteilung von Weisungen wie der Streichung des Homeoffice billiges Ermessen zu berücksichtigen habe. Sie hätte demnach die berechtigten Belange des Arbeitnehmers angemessen berücksichtigen müssen. Und hier überwogen die Interessen des Arbeitnehmers. Das LAG wies ferner darauf hin, dass es ein überwiegendes sachliches Interesse der Arbeitgeberin benötige, um eine Versetzung aus dem Homeoffice von einem Ort, wo der Arbeitnehmer familiär, logistisch im Freundeskreis und in der Kultur verortet ist, in ein 500 km entferntes Büro durchsetzen zu können. Das hielt das Gericht hier nicht für gegeben. Zwar sei die Versetzung wegen der Betriebsschließung notwendig gewesen. Das galt jedoch nach Ansicht des Gerichts nicht für den Widerruf der Homeofficeerlaubnis.
Hinweis: Es ist also nicht immer einfach, per Direktionsrecht einen Arbeitnehmer zurück in den Betrieb zu versetzen. Denn stets ist eine Interessenabwägung vorzunehmen.
Quelle: LAG Köln, Urt. v. 11.07.2024 – 6 Sa 579/23
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(aus: Ausgabe 03/2025)
Dass das Arbeitsgericht Köln (ArbG) die Klage einer Gewerkschaft abgewiesen hat, lag an formalen Gründen. Wie ein Urteil jedoch ausfiele, wenn es weder formale Mängel gegeben hätte noch unkonkrete Klageanträge gestellt worden wären, ist Kern dieses Falls. Denn dieses Urteil wäre womöglich zuungunsten für die beklagte Arbeitgeberin ausgefallen, die im Streikfall auf Leiharbeiter zurückgegriffen hatte.
Eine Verlagsgesellschaft beschäftigte neben der Stammbelegschaft von ca. 680 Arbeitnehmern regelmäßig eine größere Zahl von Leiharbeitnehmern. Als die Gewerkschaft einen Haus- und einen Gehaltstarifvertrag durchsetzen wollte, kam es in den vergangenen zwölf Monaten regelmäßig zu Streiks. Um ihren Betrieb dennoch aufrechterhalten zu können, hatte die Arbeitgeberin auf die damit aufkommenden Personalausfälle während der Arbeitskampfmaßnahmen mit dem Einsatz von Leiharbeitnehmern reagiert. Das wollte sich die Gewerkschaft nicht bieten lassen. Sie wollte der Arbeitgeberin durch das ArbG in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes untersagen lassen, im bestreikten Betrieb Leiharbeitnehmer zu beschäftigen. Das begründete sie mit der Verbotsregelung in § 11 Abs. 5 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG). Demnach darf der Entleiher Leiharbeitnehmer nicht tätig werden lassen, wenn sein Betrieb unmittelbar von einem Arbeitskampf betroffen ist. Dieses Verbot gelte nur dann nicht, wenn sichergestellt sei, dass durch die Leiharbeitnehmer weder unmittelbar noch mittelbar Tätigkeiten von Streikenden übernommen werden. Die Gewerkschaft berief sich hier darauf, dass die Organisation der Arbeitgeberin keine strikte Trennung zwischen den Aufgaben der Stammbelegschaft und denen der Leiharbeitnehmer zuließ.
Das ArbG wies die Klage jedoch als unzulässig ab – die Gründe dafür waren allerdings formale Mängel und insbesondere die zu unbestimmten Klageanträge. Das Gericht betonte in seiner Entscheidung jedoch, dass der Gewerkschaft auf Grundlage des § 11 Abs. 5 AÜG grundsätzlich ein Unterlassungsanspruch zustehen kann, wies in diesem Zusammenhang aber auch darauf hin, dass dies durchaus umstritten sei.
Hinweis: Gegen die Entscheidung kann Berufung eingelegt werden, was sehr wahrscheinlich ist.
Quelle: ArbG Köln, Urt. v. 13.12.2024 – 19 Ga 86/24
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(aus: Ausgabe 03/2025)
Zum Thema Familienrecht
- Betreuungsrecht: Keine persönliche Anhörung ohne Anwesenheit des Verfahrenspflegers
- Kindliche Gewalterfahrung: Umgangsausschluss kann nach häuslicher Gewalt verlängert werden
- Sorgerechtsverfahren: Sorgfältige Ermittlung und Beschlussbegründung auch bei elterlicher Zustimmung unabdingbar
- Umgangsrecht: Gericht muss Abänderungsbedarf in Kindschaftssachen stets prüfen
- Zugewinnausgleich: Ausschluss von Auskunftsverpflichtung nur bei Positionen, die die Berechnung nicht beeinflussen
Im Jahr 2023 wurde dem Betreuungsrecht der § 319 Abs. 2 Satz 2 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) hinzugefügt. Dieser schreibt vor, dass ein hinzugezogener Verfahrenspfleger generell an der persönlichen Anhörung eines Betroffenen teilnehmen muss – es sei denn, seine Entbehrlichkeit ist gut begründet. Unter diesen Prämissen musste das Landgericht Lübeck (LG) einen vom Amtsgericht Oldenburg (AG) gefassten Beschluss prüfen; dabei ging es immerhin um das hohe Grundrecht auf Freiheit der betreffenden Person.
Am 28.07.2023 wurde beantragt, einen Betroffenen vorläufig freiheitsentziehend unterzubringen. Eine aktuelle Stellungnahme der Amtsärztin wurde dem Antrag beigefügt. Als der Betroffene in Anwesenheit des diensthabenden Arztes am Abend des 28.07.2023 dazu persönlich angehört wurde, nahm die über diesen Termin informierte Verfahrenspflegerin nicht persönlich daran teil. Nachdem der diensthabende Arzt ein ärztliches Zeugnis abgegeben hatte, ordnete das AG schließlich die vorläufige Unterbringung des Betroffenen längstens bis zum 04.08.2023 an. Dieser legte unmittelbar im Anschluss an die mündliche Bekanntgabe des Beschlusses Beschwerde zum richterlichen Protokoll ein – erfolgreich.
Denn in Augen des LG war der Beschluss des AG rechtswidrig und hat den Betroffenen in dessen Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt. Dem Beschluss lag schlichtweg ein Verfahrensfehler zugrunde. Denn die persönliche Anhörung des Betroffenen ist ohne Anwesenheit eines Verfahrenspflegers erfolgt, was dem Inhalt des § 319 Abs. 2 Satz 2 FamFG widerspricht. Diese im Zuge der Betreuungsrechtsreform zum 01.01.2023 in Kraft getretene Norm ist so zu verstehen, dass der Verfahrenspfleger in der Regel an der Anhörung teilnehmen muss. Er hat nicht die Wahl, ob er teilnehmen möchte oder nicht. Nimmt ein Verfahrenspfleger dennoch nicht teil, dann muss dessen Entbehrlichkeit begründet werden. Und ebendies war hier nicht geschehen.
Hinweis: Eine freiheitsentziehende Unterbringung ist eine extrem einschränkende Maßnahme. Genau deshalb müssen hierbei alle Schutzfaktoren für die Betroffenen ausgeschöpft werden. Dazu gehört eben auch die Teilnahme des Verfahrenspflegers.
Quelle: LG Lübeck, Beschl. v. 19.12.2024 – 7 T 324/23
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(aus: Ausgabe 03/2025)
Um Menschen durch Gewalterfahrungen nachhaltig zu prägen, muss sich die Gewalt nicht direkt gegen sie wenden. Das zeigt sich oft genug an häuslicher Gewalt, der Kinder beizuwohnen gezwungen sind. Erlebt ein Kind, wie der eine Elternteil gegen den anderen Gewalt ausübt, ist das bei der Entscheidung zum Umgangsrecht stets zu berücksichtigen. Dass ein bereits getroffener Umgangsausschluss in der zweiten Instanz sogar noch verlängert werden kann, zeigt dieser Fall des Oberlandesgerichts Saarbrücken (OLG).
Ein Paar hat gemeinsam einen elfjährigen Sohn. Am 24.03.2023 wurde der Vater wegen Körperverletzung in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit Bedrohung sowie Beleidigung und versuchter Nötigung zum Nachteil der Mutter, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Dies bedeutete, dass er auf freiem Fuß bleibt. Deshalb verpflichteten sich die Eltern in einem Gewaltschutzeilverfahren am 14.06.2023 wechselseitig zur Einhaltung eines umfassenden Kontakt- und Näherungsverbots. Der Mutter wurde zudem das umfassende Sorgerecht übertragen. Dagegen legte der Vater Beschwerde ein, die verworfen wurde. Stattdessen wurde ihm zusätzlich untersagt, bis zum 27.03.2025 mit seinem Sohn in Kontakt zu treten. Daraufhin legte der Vater erneut Beschwerde ein. Er verlangte eine gestufte Umgangsregelung.
Damit scheiterte er jedoch vor dem OLG. Zwar muss das Gericht in Umgangssachen verhältnismäßig entscheiden, also mildere Mittel als den Umgangsausschluss prüfen, wie beispielsweise einen begleiteten Umgang. Hat aber der eine Elternteil Gewalt gegen den anderen ausgeübt, hat das Kind besondere Belastungen zu tragen. Diese sind schon wegen des Art. 31 der “Istanbul-Konvention” (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt v. 11.05.2011) zu berücksichtigen. Erlebt ein Kind Gewalt eines Elternteils gegen den anderen, wirkt dies auf das Kind wie ausgeübte psychische Gewalt. Kinder sind von ihren Elternteilen abhängig und identifizieren sich mit ihnen. Im Fall von Gewalt gegen die Eltern erlebt ein Kind folglich ungeahnte Verlust- und Existenzängste.
Hinweis: Bevor in Fällen vom Kind miterlebter schwerer häuslicher Gewalt Umgang wieder in Betracht kommt – unbegleitet, aber auch begleitet -, muss zum einen das Kind dazu bereit sein, sich wieder auf den Täter einlassen zu können. Zum anderen muss geklärt sein, dass der Täter sich dem Kind adäquat nähern und ihm gegenüber Bedauern über seine Taten vermitteln kann.
Quelle: OLG Saarbrücken, Beschl. v. 03.12.2024 – 6 UF 64/24
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(aus: Ausgabe 03/2025)
Sind Eltern nicht in der Lage, adäquat für ihr Kind zu sorgen, kann das Kind von den Eltern getrennt werden. Ob die Voraussetzungen für die Trennung vorliegen, muss das Gericht im Wege der Amtsermittlung nicht nur feststellen, sondern in seinem entsprechenden Beschluss auch sorgfältig begründen. Dies gilt selbst dann, wenn die Eltern der Trennung zustimmen – so wie im folgenden Fall des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (OLG).
Einem Paar mit zwei Kindern wurde das Sorgerecht für sein älteres Kind durch Beschluss des zuständigen Amtsgerichts (AG) entzogen und ein Amtsvormund bestellt. Das Kind kam in eine Dauerpflegestelle. Die Mutter nahm die monatlich vorgesehenen begleiteten Umgänge nur einmal wahr. Dann wurde das zweite Kind in eine Bereitschaftspflegefamilie gebracht. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung und Anhörung der Kindeseltern, des Verfahrensbeistands und des Jugendamts wurde den Eltern entsprechend der Empfehlung des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin auch das Sorgerecht für das zweite Kind entzogen. Die elterliche Sorge wurde sodann auf das Jugendamt als Amtsvormund übertragen. Die Eltern stimmten dem zu. Die Mutter widerrief dann jedoch ihre Zustimmung und erklärte mit ihrer Beschwerde, dass sie mit dem Entzug der elterlichen Sorge doch nicht einverstanden sei.
Daraufhin hob das OLG den Beschluss des AG auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück. Denn das vor dem AG durchgeführte Verfahren litt an einem schweren Verfahrensmangel. Es hatte seine Entscheidung mit Zustimmung aller Beteiligter auf §§ 1666, 1666a Bürgerliches Gesetzbuch gestützt. Aus dem getroffenen Beschluss hätte daher auch hervorgehen müssen, dass eben diese Voraussetzungen der Normen gerichtlich geprüft wurden. Dies war dem Beschluss aber nicht zu entnehmen. Das Gericht hatte sich zudem keinen unmittelbaren Eindruck von dem betroffenen Kind verschafft. Von der Anhörung eines Kindes kann zwar abgesehen werden – dies muss das Gericht dann jedoch auch begründen. Selbst wenn das Kind noch nicht angehört werden kann, weil es zum Beispiel noch nicht spricht, hätte das Gericht sich einen persönlichen Eindruck verschaffen müssen. Das AG wird sich daher noch einmal der Sache annehmen müssen.
Hinweis: Der Entzug des Sorgerechts ist ein erheblicher Eingriff in die Grundrechte aller Beteiligten. Aus diesem Grund müssen vom entziehenden Gericht auch eine sorgfältige Ermittlung und eine saubere Begründung der daraus resultierenden Entscheidung gefordert werden.
Quelle: OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 06.01.2025 – 6 UF 239/24
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(aus: Ausgabe 03/2025)
Getroffenen Umgangsregelungen zu widersprechen, taugt im Familienrecht oft als “Störfeuer” gegen das Familienleben des aktuell sorgeberechtigten Elternteils. Daher können Gerichte ein Änderungsverfahren auch ohne Prüfung ablehnen, sobald es an begründenden Anhaltspunkten fehlt. Derlei Anhaltspunkte lagen nach Ansicht eines Kindsvaters im folgenden Fall jedoch eindeutig vor, und das Oberlandesgericht Bamberg (OLG) sah dies genauso.
Die Eltern einer 2016 geborenen Tochter leben seit Juni 2019 getrennt. Den Umgang haben die Eltern mit einer gerichtlich gebilligten Umgangsvereinbarung vom 12.08.2020 (Regelumgang) und mit gerichtlich gebilligtem Teilvergleich vom 18.11.2021 (Ferienumgang) geregelt. Der Vater begehrte Ende 2021 die Einrichtung eines Wechselmodells, am 07.03.2022 einigte man sich aber darauf, dass es bei den bisherigen Regelungen verbleiben soll. Am 26.09.2024 beantragte der Vater aber dann doch die Abänderung der Vereinbarungen. Dies hat das Amtsgericht (AG) ohne Beteiligung der Antragsgegnerin, des Kindes und des Jugendamts abgelehnt – es wurde kein Abänderungsverfahren eingeleitet. Dagegen legte der Vater Beschwerde ein, und zwar mit Erfolg.
Laut Beschluss des OLG hätte das AG die Voraussetzungen für eine Abänderung der Umgangsregelungen im Rahmen eines einzuleitenden Hauptsacheverfahrens prüfen müssen. Zwar entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen, ob ein Änderungsverfahren eingeleitet wird, und kann dessen Einleiten mangels Anhaltspunkten für eine Änderung ablehnen. In diesem Fall hatte der Vater aber konkrete Verstöße der Kindsmutter gegen die bisherige Umgangsregelung vorgetragen. Zudem war diese Umgangsregelung auch schon zwei Jahre alt – allein schon deswegen hätte eine nähere Sachprüfung stattfinden müssen. Das Verfahren wurde vom OLG daher nochmal an das AG zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Hinweis: Möchten Sie die Abänderung einer Umgangsregelung durchsetzen, dann tragen Sie Ihren Änderungsbedarf und Ihre Beweggründe so konkret wie möglich vor. Warum soll die Umgangsregelung geändert werden? Worin liegt der Unterschied zur Interessenlage zum Regelungszeitpunkt? Können Sie das darlegen, ist das Gericht gezwungen, diesen Bedarf auch zu überprüfen.
Quelle: OLG Bamberg, Beschl. v. 23.12.2024 – 2 UF 218/24
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(aus: Ausgabe 03/2025)
Durch notariellen Ehevertrag können Vermögenspositionen im Scheidungsfall von der Zugewinnberechnung ausgeschlossen werden. Dieser Ausschluss kann sich auch auf sogenannte “Surrogate” beziehen, auf Ersatz- oder Äquivalenzanschaffungen, die ausschließlich aus dem Veräußerungserlös der benannten Vermögenspositionen finanziert wurden. Wie konkret sich das auf die Auskunftspflicht auswirkt, zeigt dieser Fall des Oberlandesgerichts München (OLG).
Durch einen notariellen Ehevertrag vom 27.04.2017 hatte ein Ehepaar, das 2003 geheiratet hatte, vereinbart, dass ein Zugewinnausgleich hinsichtlich der “jetzigen und künftigen” Gesellschaftsanteile des Ehemanns an einer GmbH und einer UG nicht stattfinden solle. Ebenso wurden sogenannte Surrogate für die vorgenannten Vermögensgegenstände vom Zugewinnausgleich ausgenommen. Auf Verlangen eines Ehegatten sei allerdings ein Verzeichnis der vom Zugewinnausgleich ausgenommenen Vermögensgegenstände einschließlich aller darauf bezogenen Veränderungen aufzustellen und fortlaufend fortzuführen.
Am 28.08.2021 ging der Frau der Scheidungsantrag zu. Die besagten Gesellschaftsanteile hatte der Mann bereits im Jahr 2019 veräußert, davon Darlehensverbindlichkeiten getilgt und in zwei Eigentumswohnungen sowie in Geldanlagen investiert. Dies erwähnte er aber nicht in der Auskunft zum Endvermögen bzw. zum Vermögen zum Trennungszeitpunkt. Die Ehefrau hielt diese Auskunft daher für unvollständig. Ihr Mann hätte auch Auskunft über die Surrogate aus dem Verkauf der Anteile an der GmbH geben müssen. Dieser sah das anders: Er müsse gar keine Auskunft erteilen, da die Ehefrau in der intakten Ehezeit nicht von ihm verlangt habe, das Verzeichnis der ausgenommenen Gegenstände und über deren Surrogate zu führen. Im Nachhinein können sie das nun nicht mehr einfordern.
Diese Argumentation teilte das OLG hingegen nicht. Da ein Antrag auf Ehescheidung vorliegt, sind die Ehegatten berechtigt, wechselseitig Auskunft über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung zu verlangen. Diese Auskunftspflicht erstreckt sich auf alle Umstände, die für die Berechnung der Vermögensmassen relevant sind, also grundsätzlich auch auf die mittlerweile veräußerten Gesellschaftsanteile des Ehemanns und deren Surrogate.
Hinweis: Eine Auskunftsverpflichtung besteht nur dann nicht, wenn die einzelne Position unzweifelhaft keinen Einfluss auf die Berechnung des Zugewinns haben kann. Eine derart umfassende Auskunft hat der Ehemann hier über die Gesellschaftsanteile und deren Surrogate allerdings nicht erteilt.
Quelle: OLG München, Beschl. v. 30.01.2025 – 16 UF 577/24 e
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(aus: Ausgabe 03/2025)
Zum Thema Sonstiges
- 10.000 EUR Hinterbliebenengeld: Insolvenzschuldner hat als Hinterbliebener eines Mordopfers Anspruch auf Prozesskostenhilfe
- Außergewöhnliche Umstände: Verzögerung wegen Fluglotsenstreiks sind aus Gesamtverspätung zeitlich herauszurechnen
- Betrug durch “Enkeltrick”: Widerruf bei Echtzeitüberweisungen nur bis zur Freigabe bei der Bank möglich
- Entschädigungsanspruch: Verlegung eines Flugs um mehr als 24 Stunden kommt Annullierung gleich
- Vorgegaukelter Prozessgewinn: Falschinformationen führen zu Schadensersatzansprüchen gegenüber Anwaltssozietät
Wer einer getöteten Person nahestand, kann unter Umständen ein Hinterbliebenengeld verlangen. Das gilt selbst dann, wenn dem Hinterbliebenen von dem erstrittenen Geld womöglich nichts verbleibt. In diesem Fall befasste sich das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) mit dem Anrecht auf Prozesskostenhilfe (PKH) für eine Klage des Sohns gegen den Mörder seiner Mutter. Antragsteller war hier der Insolvenzverwalter des Hinterbliebenen.
Die Mutter eines Manns war erschossen worden, und zwar von dessen Stiefvater. Dann geriet der Sohn der Getöteten in Insolvenz, woraufhin der Insolvenzverwalter vom Mörder eine Geldentschädigung verlangte. Nachdem das erstinstanzliche Landgericht die Klage abgewiesen hatte, gewährte das OLG nun PKH für das Berufungsverfahren, soweit ein Entschädigungsanspruch in Höhe von 10.000 EUR verfolgt wird.
Der Insolvenzschuldner – der Sohn der Ermordeten – habe nach Ansicht des OLG Anspruch auf Zahlung eines sogenannten Hinterbliebenengeldes. Danach kann der Hinterbliebene, der zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis stand, für das ihm zugefügte seelische Leid eine angemessene finanzielle Entschädigung verlangen. Ein solcher Anspruch setze neben der Haftung des Schädigers lediglich ein Näheverhältnis voraus, das zwischen der getöteten Person und – wie hier – dessen Kind vermutet wird. Die gesetzliche Vermutung dieses Näheverhältnisses hatte der verurteilte Mörder hier auch nicht widerlegt. Deshalb wurde PKH bewilligt, und der Insolvenzverwalter wird für den Sohn vermutlich die Klage gewinnen.
Hinweis: Natürlich wird es in solchen Fällen schwer, von dem Mörder, der unter Umständen noch in einer Strafvollzugsanstalt sitzt, das Geld zu bekommen. Andererseits kann sich der Straftäter nicht durch ein Insolvenzverfahren der Zahlung entziehen.
Quelle: OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 21.11.2024 – 3 U 103/24
zum Thema: | Sonstiges |
(aus: Ausgabe 03/2025)
Bei der schnellen Betrachtung von Entscheidungen zu Fluggastrechten kann der Eindruck entstehen, dass man als Passagier im Fall einer Verspätung oder Annullierung Klagen eigentlich nur gewinnen kann. Doch weit gefehlt, denn dass auch Fluggesellschaften bei der Einhaltung zugesagter Flugzeiten manchmal machtlos sind, findet vor den Gerichten ebenfalls Berücksichtigung – so wie bei dieser Entscheidung des Landgerichts Saarbrücken (LG).
Eine Frau hatte einen Flug gebucht, der um 10:25 Uhr sein Ziel erreichen sollte. Tatsächlich kam es aufgrund eines Fluglotsenstreiks und aufgrund weiterer Umstände zu einer Verspätung von insgesamt drei Stunden und 59 Minuten. Dabei war dem Streik ein Anteil der Verspätung von einer Stunde und 49 Minuten zuzurechnen. Das mag kleinlich klingen, denn am Ende waren es ja insgesamt knapp vier Stunden Verspätung. Doch an dem Ausgang des Verfahrens ändert diese Aufrechnung alles. Denn sie trug Schuld daran, dass die Passagierin die begehrte Ausgleichszahlung nicht erhielt.
In den Augen des LG hatte die Fluggesellschaft durchaus alle ihr zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um die Verspätung zu verhindern. Daher war die aufgrund der Streikmaßnahmen entstandene Verzögerung aus der Gesamtzeit herauszurechnen – womit eine Verspätung von zwei Stunden und zehn Minuten verblieb, die der Gesellschaft anzurechnen sei. Aber: Eine Verspätung von unter drei Stunden gilt nicht als große Verspätung und führt daher auch nicht zu einem Ausgleichsanspruch. Deswegen hat die Frau die Klage verloren.
Hinweis: Wer Ausgleichszahlungen aufgrund der Verspätung oder des Ausfalls eines Fliegers haben möchte, kann den Rechtsanwalt seines Vertrauens fragen. Wichtig ist stets, die Beweise zu sichern, insbesondere, welche Verspätung genau aufgetreten ist.
Quelle: LG Saarbrücken, Urt. v. 10.10.2024 – 13 S 20/24
zum Thema: | Sonstiges |
(aus: Ausgabe 03/2025)
Das Landgericht Frankenthal (LG) hat kürzlich ein Urteil über einen Rückzahlungsanspruch nach einer Sofortüberweisung gefällt. Geklagt hatte ein Ehepaar, das einem sogenannten Enkeltrick zum Opfer fiel – auch wenn es bei dem Betrug um die Tochter der beiden ging. Das Urteil überrascht wenig. Daher sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in solchen Fällen Kontrolle immer noch mehr zählt als Vertrauen und schon ein absichernder Anruf beim angeblich in Not befindlichen Nachwuchs vor Schaden schützen kann.
Ein Ehepaar hatte im Herbsturlaub 2023 eine Textnachricht von einer unbekannten Rufnummer erhalten. Der Absender gab sich als deren Tochter aus und bat darum, über WhatsApp über eine neue Handynummer Kontakt aufzunehmen. Bei dem darauffolgenden Chat glaubte das Paar fest daran, mit seiner Tochter in Kontakt zu sein. Auf Frage teilten sie daraufhin die Zugangsdaten für das von ihnen genutzte Onlinebanking mit und gaben schließlich zwei Echtzeitüberweisungen von insgesamt rund 6.000 EUR über die auf ihrem Handy installierte Photo-Tan-App frei. Dann kamen dem Ehepaar Bedenken und nach einer Kontaktaufnahme mit der Tochter erkannte es die Täuschung. 20 Minuten nach der Freigabe der Zahlungen informierte es bereits den Kundenservice seiner Bank und ließ das Konto sperren. Trotzdem wurden die Beträge zwei Tage später vom Girokonto abgebucht. Die Bank meinte, es sei nicht mehr möglich gewesen, die Vorgänge zu stoppen. Deshalb lehnte sie eine Rückerstattung ab, woraufhin das Ehepaar klagte.
Das LG wies die Klage ab. Wer auf Betrüger hereinfällt und im Onlineverfahren eine Echtzeitüberweisung freigibt, kann nicht darauf hoffen, dass die Bank den Schaden ersetzt. Dies gilt selbst dann, wenn schon Minuten später der Schwindel bemerkt und über den Kundenservice das Konto gesperrt wird. Ein Widerruf bei Echtzeitüberweisungen ist nur bis zum Zugang der Freigabe bei der Bank möglich. Die Tatsache, dass die Abbuchung erst zwei Tage später erfolgt ist, änderte nichts am Ergebnis. Es war zwischen dem Geldausgang, der schon wenige Sekunden nach der Onlinefreigabe erfolgt war, und dem Zeitpunkt der Belastung des Kontos zu unterscheiden.
Hinweis: Bestenfalls fallen Betroffene nicht auf einen Betrüger herein. Bei jeder Überweisung sollte nochmals genau nachgedacht werden, ob wirklich alles mit rechten Dingen zugeht.
Quelle: LG Frankenthal, Urt. v. 24.10.2024 – 7 O 154/24
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(aus: Ausgabe 03/2025)
Wer in Sachen Fluggastrechte meint, es wären alle Fragen beantwortet, irrt. Denn immer wieder müssen neue Konstellationen rechtlich auf EU-Konformität geprüft werden. Im Folgenden war zu klären, ob eine Verlegung eines Flugs von mehr als 24 Stunden einer Annullierung gleichkommt. Die Antwort gab das Amtsgericht Köln (AG).
Es ging um eine insgesamt sechsköpfige Reisegruppe, die am 27.01.2022 nach Barcelona fliegen wollte. Der Flug sollte planmäßig um 17:15 Uhr lokaler Zeit starten und das Ziel um 19:25 Uhr lokaler Zeit erreichen. Allerdings startete das Flugzeug erst am Abend des 28.01.2022. Die Änderung der Flugzeiten nahm die Fluggesellschaft bereits im Dezember vor. Drei Personen wurden sodann am 28.01.2022 nach Barcelona befördert, ihre Ankunft lag bei 23:49 Uhr lokaler Zeit. Die anderen drei traten den Flug schon gar nicht mehr an. Alle sechs verlangten nun eine Entschädigung.
Nach Auffassung des AG liegt bei einer Verlegung eines Flugs um mehr als 24 Stunden eine Annullierung vor. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verhält sich ausdrücklich nur zu einer Verlegung um weniger als drei Stunden und lässt nicht den Schluss zu, dass eine Annullierung auszuschließen sei, wenn ein Flug unter Beibehaltung von Flugnummer und Flugroute auf einen späteren Zeitpunkt verlegt wird. Daher ging das Kölner Gericht bei einer Verlegung eines Flugs um mehr als 24 Stunden vor einer Annullierung aus – die klagenden Passagiere erhielten jeweils 250 EUR.
Hinweis: Hat ein Flug eine Verspätung von mehr als drei Stunden, spricht viel dafür, dass ein Anspruch auf eine Entschädigung besteht. Der Entschädigungsanspruch verjährt in drei Jahren.
Quelle: AG Köln, Urt. v. 14.11.2024 – 126 C 405/24
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(aus: Ausgabe 03/2025)
Dass Geschäftsleute Geld investieren, das noch nicht auf dem Konto verbucht ist, mag einleuchten – vor allem, wenn die eigenen Rechtsanwälte vorgeben, dass eine beträchtliche Summe quasi auf dem Weg sei. So beunruhigend es sein mag, dass eine als so integer angesehene Berufsgruppe sich offensichtlich vollkommen falsch verhalten kann, so beruhigend eindeutig fiel dann aber das Urteil des Landgerichts Oldenburg (LG) gegen die Sozietät zweier Anwälte aus.
Die beiden Rechtsanwälte hatten angeblich einen Rechtsstreit zu Regressforderungen gewonnen und der Mandantin, einer Geschäftsführerin einer GmbH & Co. KG, mitgeteilt, dass sie in einer Abmahnsache ein Urteil über 1.200.000 EUR zuzüglich Zinsen gegen eine Gesellschaft erwirkt hätten. Das entsprach jedoch nicht der Wahrheit. Vielmehr war die Klage abgewiesen worden, nachdem für die Gesellschaft im Verhandlungstermin kein Antrag gestellt worden war. Somit war die Klage durch Versäumnisurteil abgewiesen worden. Die Geschäftsführerin und deren Ehemann erwarteten also im falschen Glauben eine größere Summe Geld, mit der sie sich einen Lebenstraum durch Kauf eines Hauses erfüllen wollten – sie schlossen einen Grundstückskaufvertrag über 429.000 EUR ab. Die besagten Rechtsanwälte wurden hier beratend tätig, vertrösteten in der Folgezeit die Geschäftsführerin immer wieder mit Ausreden und behaupteten gar, dass ihr noch ein weiterer Schadensersatzanspruch von 500.000 EUR zustände. Als letztendlich der Grundstückskaufpreis nicht gezahlt wurde, trat die Verkäuferseite vom Grundstückskaufvertrag zurück und machte einen Schaden von 59.000 EUR geltend. Diese Summe verlangten die Gesellschafterin und der Ehemann verständlicherweise von den Rechtsanwälten ersetzt.
Das LG hat die gemeinsame Sozietät der Anwälte tatsächlich zur Zahlung in der geforderten Höhe verpflichtet, denn es bejahte aufgrund der Falschinformationen den Schadensersatzanspruch. Die Angelegenheit ist zwar noch nicht rechtskräftig, vieles spricht jedoch für die Richtigkeit der Entscheidung.
Hinweis: Rechtsanwälte sind Organe der Rechtspflege und genießen in der Regel großes Vertrauen. Wie es sich mit Menschen und ihren Schwächen aber immer wieder verhält, gibt wieder es auch manchmal Vertreter dieses Berufsstands, die vom rechten Weg abkommen. In aller Regel wird straffällig gewordenen Anwälten aber dann auch verboten, weiterhin als Anwalt tätig zu sein.
Quelle: LG Oldenburg, Urt. v. 26.11.2024 – 16 O 3043/23
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(aus: Ausgabe 03/2025)