Berlin (West) im Herbst 1986: Ich stand noch unter der Dusche, als das Telefon klingelte. Ich schnappte mir ein Handtuch, schlang es mir um die Hüfte und sprintete ins Büro.
„Dudzus!“, bellte ich in die Muschel. Ich war ziemlich genervt. Schließlich hatte ich einen fremdgehenden Ehemann den ganzen Tag lang mit dem Auto kreuz und quer durch die Stadt verfolgt – bis mir irgendein Halunke die Vorfahrt nahm. Logisch, dass mir die Zielperson deshalb durch die Lappen ging. Als ich ins Büro zurückkehrte, hatte mir auch noch ein anderer Kunde frech am Telefon erklärt, dass er nicht im Traum daran denke, mir meine Rechnung auszuzahlen. Es war ein furchtbarer Tag…
“Dudzus”, knurrte ich noch mal in den Hörer. Dann endlich tat sich etwas am anderen Ende der Leitung. “Hier ist das Hotel Berlin Excelsior, ich bin der Portier. Einen Moment bitte, ich verbinde mit Zimmer 220.”
Dann machte es auch schon Klick, und Sekunden später hörte ich eine gehetzte Stimme, die mit Wiener Dialekt stammelte: “Ich habe ein großes Problem mit meiner Tochter. Bitte kommen´s schnell, Geld spielt keine Rolle.”
Tochter soll nicht heiraten
Meine Laune war schon besser, als ich nachdenklich auflegte. Während ich mich anzog, ließ ich mir schnell noch mal durch den Kopf gehen, was ich bisher wusste: Der Anrufer war Dr. Alois E. (54), millionenschwerer Textilfabrikant aus Wien. Und er hatte offenbar ein Riesenproblem mit seiner Tochter Patricia (22), die ebenfalls gerade in Berlin war.
Ich sprang in meinen weißen Audi 80 und düste in die Hardenbergstraße. Gegen 22Uhr klopfte ich an der Tür von Zimmer 220. Ein untersetzter, übergewichtiger Mann öffnete mir. “Trinken’s auch etwas”, fragte er und schenkte sich selbst mit zitternden Finger einen Jack Daniels in ein Zahnputzglas.
Dann kam er zur Sache. “Um Gottes willen, Herr Dudzus”, stieß er hervor. “Verhindern Sie die Hochzeit meiner Tochter. Sie will morgen früh in Ost-Berlin heiraten – einen Ostdeutschen…”
Er redete und redete, und meine grauen Zellen speicherten blitzschnell, was die kleine Patricia so für ein Typ war: Hübsch, gelangweilt, immer auf Konfrontation mit ihrem autoritären Papi aus, von Beruf Tochter.
Angst um das Millionen-Vermögen
Im Super-Billig-Urlaub am bulgarischen Goldstrand hatte sie ihr neuestes Hobby kennen gelernt: Horst (27), Autoschlosser aus Berlin-Mitte. Und schon morgen, nur ein paar Wochen später, wollte sie ihn heiraten – auf dem Standesamt Mitte, im Herbst 1986.
Kein Wunder, dass Dr. Alois E. strikt dagegen war. Er fürchtete um seine Millionen, wenn Auto-Horst erst mal aus der alten DDR ausgereist war.
“Stellen Sie sich vor, noch heute Nachmittag war ich mit meiner Tochter drüben im Ostteil. Bei einem Notar sollte ein Ehevertrag unterschrieben werden, der mich wenigstens ein bisschen absichert. Aber der Kerl hat sich geweigert. Und meine Tochter unterstützt ihn auch noch. Unternehmen Sie doch bitte etwas.” Die letzten Worte flehte er nur noch.
Ich orderte beim Nacht-Service eine riesige Kanne Kaffee und überlegte angestrengt. Dazu qualmte ich eine Marlboro nach der anderen. Aber wie ich es auch drehte und wendete, mir fiel einfach nichts ein. Alle paar Sekunden sah ich nervös auf die Uhr. Der Zeiger lief unerbittlich weiter – es war mitten in der Nacht, und schon am Morgen war die Hochzeit.
Mit Inspiration und Erfahrung zur Lösung
Doch nach qualvollen sieben Stunden checkte ich plötzlich, was zu tun war. Seitdem weiß ich, dass wahre Profis genau im richtigen Augenblick so etwas wie Inspiration haben – oder das, was der alte Mann oben im Himmel ihnen eingibt.
Ich sah alles ganz klar vor meinen Augen ablaufen. Der Millionär lauschte meinem Plan – und war begeistert. Vielleicht war die Sache nicht hundertprozentig legal. Aber schließlich hatte ich gegen das vereinbarte Honorar (immerhin 15.000 Mark) beschlossen, wieder mal als Retter in der Not zu erscheinen…
Kurz entschlossen rief ich meinen Mitarbeiter Boris an. Als ich im Audi saß, graute schon der Morgen am Himmel. Aber meine Müdigkeit war wie weggeblasen. In Rekordzeit schaffte ich es nach Lichtenrade. Dort holte ich Boris in seiner Wohnung ab. Bevor wir gingen, zogen wir uns billige Lederjacken über…
Dann ging´s mit dem Audi in die Lützowstraße nach Tiergarten. Dort hatte sich Klein-Patricia bei Freunden einquartiert, bevor sie dann ihren Horst ehelichen wolle.
In der Lützowstraße trafen wir uns, ganz nach Plan, mit Dr. Alois E.. Der war inzwischen mit dem Leih-Daimler dort eingetroffen.
Äußerlich war ich ganz ruhig, aber in mir brodelte es: Würde auch wirklich alles gut gehen? Würde irgendetwas dazwischenkommen? Gab es vielleicht doch einen Haken an meinem Plan? Außerdem beunruhigten mich die vielen Passanten, die inzwischen unterwegs waren.
Boris und ich parkten den Audi gegenüber, während Dr. Alois E. vor Patricias Haustür stand.
Und dann kam sie aus dem Neubau – aufregend hübsch mit ihrem halblangen blonden Haar, gekleidet in ein edles Chanel-Kostüm. Sie würde mit dem Bus zum U‑Bahnhof Kochstraße in Kreuzberg fahren, dort in die U 6 Richtung Alt-Tegel steigen, am Bahnhof Friedrichstraße die Grenzkontrolle passieren und in noch nicht mal drei Stunden mit ihrem Horst den Bund fürs Leben besiegeln. Eine entsetzliche Vorstellung – für Alois…
Zwei falsche Polizisten
Aber dann ging alles ganz schnell. Vor der Tür wurde Patricia von ihrem Vater abgefangen. Er tat genau das, was ich ihm eingehämmert hatte. „Ich bitte dich noch einmal: Heirate diesen Mann nicht“, schrie er mit gespielter Empörung. Dazu zerrte er so heftig an ihrem Kostüm, dass ich schon befürchtete, der schöne Stoff könnte reißen und Patricia gleich als Nackt-Modell auf der Straße stehen.
Es war Zeit einzugreifen. Ich handelte ganz cool, wie eine Maschine. Ich ließ den Motor kommen, drehte und stoppte vor dem streitenden Paar.
Boris und ich stiegen aus. “Haben Sie Schwierigkeiten mit diesem Mann”, fragte ich und setzte mein wichtigstes Gesicht auf. Da mischte sich auch schon der Alois E. ein: „Das geht Sie nichts an, sie ist meine Tochter.”
“Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, Sie so zu traktieren”, konterte ich kalt. Und setzte noch eins drauf: „Ich höre an Ihrem Dialekt, dass Sie ja wohl Ausländer sind. Dann dürfte ich Sie beide mal um ihre Pässe bitten.”
Die Sache war klar: Patricia sollte denken, Boris und ich wären eine zufällig vorbeifahrende Zivilstreife gewesen. Jetzt hing alles am seidenen Faden. Würde sie darauf reinfallen? Oder würde Sie etwa nach unseren Ausweisen fragen?
Doch erst griff ihr Vater nach seinem Pass – und dann fummelte Patricia in ihrer teuren Schlangenleder-Handasche nach ihrem Wisch. Ich spürte, wie mir das Adrenalin literweise in den Körper schoss.
Seitenriss und das Ende eines Traums
Ich grabschte nach den Dokumenten. „Moment bitte, das muss ich überprüfen“, sagte ich. Und schon beugte ich mich in den Audi, blätterte in Patricias Reisepass und tat so, als wollte ich über Funk Kontakt mit der Zentrale aufnehmen. Dabei schirmte mich Boris mit seinem breiten Rücken ab.
Sekunden später fand ich, was ich suchte – die Seite mit dem Lichtbild. Ich fetzte sie heraus. So hatte die Kleine keine Chance mehr, durch die Grenzkontrolle zu kommen. Zugegeben, es war nicht die feine Art, aber schließlich musste ich Patricia vor einem folgenschweren Fehler bewahren.
“Alles in Ordnung”, sagte ich und quälte mir dabei sogar ein Lächeln ab. “Angenehmen Aufenthalt in Berlin”, wünschte ich heimtückisch und gab den beiden ihre Pässe zurück. Sie stopften sie sofort in ihre Taschen zurück. Die Sache war gelaufen.
Ein paar Stunden später hatte ich Dr. Alois E. am Telefon, während seine Tochter schon heulend wieder bei ihren Freunden in der Lützowstraße saß: “Alles ging glatt. Der Grenzer hat sie ganz schön angeschnauzt, wie sie denn mit einem Pass ohne die Lichtbild-Seite versuchen könne, in die DDR einzureisen. So was sei ihm sein Leben lang noch nicht passiert. Tja, da mussten wir dann eben zurückkehren.”
Und der arme Horst stand unterdessen vor dem Standesamt Mitte am Alex und wunderte sich, überlegte ich mir. Die Millionen und die Ausreise aus der DDR – alles im Eimer. Verdammt dumm gelaufen. Patricia hat von ihrem Bräutigam nie wieder gehört.
Aber auch für Dr. Alois E. war die Aufregung wohl zu viel: Noch am selben Tag sackte er mit einem Herzanfall zusammen und wurde ins Klinikum Westend eingeliefert.
Zwei Wochen später holte ich ihn dort als geheilt entlassen wieder ab, um ihn zum Flughafen Tegel zu bringen. Ich bin ein sehr freundlicher Mensch. Als wir im Auto saßen, seufzte Dr. Alois E. Ihn schien schon wieder etwas zu beunruhigen. Dann ließ er es heraus: “Ich habe vorhin mit meiner Tochter telefoniert. Sie war überglücklich. Stellen Sie sich vor, Herr Dudzus – sie ist jetzt einer Sekte in München beigetreten.…”