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Ein deut­scher Vater kämpft ver­zwei­felt um das Sor­ge­recht sei­nes Soh­nes, der von der Mut­ter nach Alba­ni­en ent­führt wur­de. Trotz des allei­ni­gen Auf­ent­halts­be­stim­mungs­rechts des Vaters bleibt der Auf­ent­halts­ort des Kin­des in Alba­ni­en zunächst ver­bor­gen. Der Fall, der sowohl deut­sche als auch alba­ni­sche Gerich­te beschäf­tigt, ist noch unge­löst. In einem Ver­such, sei­nen Sohn zurück­zu­be­kom­men, hat der Vater den Pri­vat­de­tek­tiv Ste­fan Dud­zus enga­giert, der das Kind in Durres/​Albanien fin­det. Die Situa­ti­on wird durch Vor­wür­fe der Mut­ter gegen den Vater, die Gewalt und Miss­brauch betref­fen und von ihm bestrit­ten wer­den, wei­ter kom­pli­ziert. Ange­sichts der aus­weg­lo­sen Lage erwägt der Vater eine “Rück­ent­füh­rung” sei­nes Sohnes.

Die Zeit Verbrechen Er will nur seinen Jungen zurück Seit Monaten sucht ein Vater nach seinem Sohn. Als er ihn endlich in Albanien findet, darf er ihn nicht mit nach Hause nehmen. Warum nur? Nachts kann er bei ihm sein, zumindest für ein paar Stunden. Dann sieht Alex den kleinen Jungen mit dem blonden Topfschnitt und den großen runden Augen vor sich. Mal fährt er Schlitten, mal rennt er mit seinem roten Feuerwehrrucksack auf dem Rücken auf ihn zu. Die schönsten Träume sind auch die schlimmsten: Wenn sein Sohn in seinen Armen schläft, dann spürt Alex ihn, als wäre er nie fort gewesen. Er hält ihn ganz fest. Seinen verlorenen Jungen. Durres, eine Hafenstadt im Westen von Albanien, November 2022. Vor einem Cafe neben dem Gerichtssaal stehen eng geparkt Autos mit eingeschlagenen Scheiben. Von den Strommasten hängen Kabel wie Lianen, ein Porsche rast vorbei an einer Eselkutsche mit einer Waschmaschine im Anhänger. Am Tisch im Außenbereich des Cafes die müden Gesichter von sechs Personen, sie ziehen an ihren Zigaretten. In ihrer Mitte ein Mann, zwei Meter groß, die Hände vor dem Gesicht gefaltet. Keiner spricht. Die vergangenen Wochen haben Spuren bei Alexander Herrmann hinterlassen. Die Schatten unter den Augen sind dunkler geworden, die Haut im Gesicht ist fahl, seine Jeans sitzt locker. Neun Monate ist es her, dass seine Ex-Freundin Rovena (Name geändert) den gemeinsamen Sohn Erik nach Albanien entführt hat. Seitdem hat er sein Kind nicht mehr gesehen. Sieben Jahre war er mit Rovena zusammen. »Ich dachte, ich kenne sie«, sagt Alex, während er mit einem Kinderschuh spielt, der an der Aktentasche auf seinem Schoß baumelt. Eriks erster Sneaker. Seit das alles angefangen hat, hasst Alex Gerichtssäle. Den sterilen Geruch, die anonymen, schwarzen Roben, die Bedrohlichkeit, die in der Luft liegt. Heute soll ein albanischer Richter endlich entscheiden, ob Alex seinen Sohn wieder nach Deutschland mitnehmen darf. Für den Fall haben er und seine Eltern - Claudia und Micha Herrmann - einen Privatdetektiv, eine Dolmetscherin und eine Anwältin organisiert. Sie alle sitzen um Alex versammelt. Das zweite Mal ist er mit seinen Eltern schon nach Albanien gereist, um an einer Verhandlung teilzunehmen. Bisher ohne Erfolg. Am Straßenrand streiten sich zwei alte Frauen in Blumenschürzen mit einem Orangenhändler. Alex sieht das nicht. Sein Blick wandert zu den Kindern, die neben dem Cafe auf dem Spielplatz spielen. überall, egal wohin er geht, suchen seine Augen den Ort nach Erik ab - während der Autofahrt durch die Innenstadt, im Restaurant, im Supermarkt. Alle Kindergärten in Durres ist er in den vergangenen Tagen abgelaufen. Durch alle Zäune hat er gespäht, in der Hoffnung, seinen Sohn zu sehen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Ein Junge mit blonden Haaren schreit auf, als er von der Rutsche fällt. Alex dreht sich um, senkt dann enttäuscht den Kopf. Seine Mutter Claudia nimmt seine Hand. Noch eine Stunde bis zur Gerichtsverhandlung. Dann hat Alex Gewissheit, ob er seinen Jungen jemals wieder in die Arme schließen darf. Kinder, die von den eigenen Eltern entführt werden. Klingt unvorstellbar, ist allerdings keine Seltenheit. Im Fachjargon spricht man nicht von Entführung, sondern von »Kindesentziehung«. Entführungen ins Ausland sind besonders schwierig zu lösen. Das liegt vor allem an der unterschiedlichen Gesetzeslage der Länder. Deshalb gibt es das Haager Kindesentführungsschutzabkommen, kurz HKÜ. Laut Vertrag ist ein Land gesetzlich verpflichtet, eine »sofortige Rückführung« des Kindes zu veranlassen, falls eine Kindesentziehung vorliegt. Albanien liegt zwar außerhalb der EU und außerhalb des Schengenraums, ist aber Vertragsstaat des HKÜ - und muss somit den Vereinbarungen nachkommen. Eigentlich. Eine konkrete Zahl an jährlichen Entführungen von Kindern durch einen Elternteil lässt sich kaum ermitteln, da es keine zentrale Datenbank gibt. Die Länder, in denen am häufigsten Rückgabeanträge auf entführte Kinder gestellt werden, sind die USA, England, Mexiko und Deutschland. In 88 Prozent der Fälle ist die Mutter die Entführerin. Doch wie sieht es mit der Einhaltung des HKÜ aus? Dazu veröffentlicht die USA jährlich einen Report. Mit diesem Bericht möchten sie beurteilen, ob und wie die Vertragsstaaten das HKÜ umsetzen. Das Ergebnis: Deutschland erhielt die Bewertung »not fully compliant«. Das HKÜ sichert - zumindest auf dem Papier - einige Rechte zu. Dazu zählen, dass das Bundesamt für Justiz in Bonn, die zentrale Behörde für das HKÜ-Verfahren, sich um die Suche nach einem geeigneten Rechtsanwalt für die Hinterbliebenen kümmert, gegebenenfalls eine Grenzsperre veranlasst, den Aufenthalt des Entführers oder der Entführerin ermittelt und Prozesskostenhilfe leistet. In Alex' Fall traf nichts davon zu. Bis heute weiß Alex nicht, wie es dazu kommen konnte. Tausendmal hat er die Geschichte in seinem Kopf durchgespielt, überlegt, wo er unaufmerksam war oder was Falsches gesagt hat. Was der Grund war für Rovenas Verschwinden. Dabei sei anfangs alles so schön gewesen, so leicht, erinnert er sich, und dann beginnt er zu erzählen. Vieles von Alex' Geschichte wird sich belegen lassen, zum Beispiel durch ein Gutachten des Kinderarztes, der Erik nach der Geburt untersuchte, mithilfe von Gesprächen mit Alex' Anwalt und Stellungnahmen des Jugendamts des Landkreises Potsdam-Mittelmark sowie des Kindergartens, den Erik besuchte. Ebenso gibt es Dokumente, die belegen, dass Alex regelmäßig Unterhalt zahlte und ein positives Führungszeugnis hat. Sie alle liegen ZEIT Verbrechen vor. Manches aber kann man kaum überprüfen. Doch man kann mit den Leuten sprechen, die Rovena und Alex als Menschen, als Liebespaar und Eltern erlebt und im Umgang mit Erik beobachtet haben. Leute, die Rovena als eine Frau beschreiben, deren Handlungen von Angst und Missgunst getrieben sind. An einem Tag im Januar 2015 sieht er sie zum ersten Mal. Groß, schlank, grüne Augen, lange braune Haare. In ihrem Profil auf der Dating-Plattform Badoo steht nicht viel. Deutsch spricht sie nur gebrochen, dafür Italienisch. Sie schminkt sich kaum. Alex gefällt das. Er will Rovena kennenlernen. Sie ist 32 Jahre alt, er 33. Sie schreiben sich zwei Wochen lang, dann treffen sie sich in einem italienischen Restaurant in Berlin-Schöneberg. Als sie sich das erste Mal sehen, weiß Alex, dass er sich in sie verlieben wird. Sie verstehen sich ohne Worte. Er, Schornsteinfeger, und sie, ausgebildete Laborassistentin, auf Jobsuche. Sie treffen sich zweimal die Woche. Jedes Mal fährt Alex von Teltow zu ihr nach Berlin. Sie gibt nicht viel von sich preis, bleibt ein Geheimnis. Er weiß nur, dass sie in Italien groß geworden ist und Verwandte in Albanien hat. Über ihre Vergangenheit redet Rovena nicht. Im Februar überrascht Alex sie mit Karten für ein Alba-Berlin-Spiel. In der Arena küssen sie sich. Nach einem Monat stellt er seine Freundin seinen Eltern vor. Rovena nimmt eine Flasche Wein mit, sie schenkt Alex' Mutter goldene Ohrringe. Es gibt Auflauf mit Börek - Rovenas Lieblingsessen. Zwei Jahre vergehen. Rovena lernt Deutsch und findet eine Stelle als labortechnische Assistenz. Gemeinsam besuchen sie mehrmals ihre Eltern in Italien. 2017 verreist das Paar nach Mexiko. Sie besuchen Maya-Pyramiden und die Ruinenstätte Chichen Itza. 2018 zieht Rovena zu Alex nach Teltow. Beide sind Mitte 30. Sie wünschen sich ein Kind. In den Wochen darauf besucht Rovena ihre Familie in Italien. Alex inspiziert den Schornstein bei einem Kunden, als der Anruf kommt. Vor Glück fällt er fast vom Dach: Rovena ist im vierten Monat schwanger. Nach Rovenas Rückkehr geht Alex mit ihr zum Kontrolltermin. Der Frauenarzt stellt fest, dass der Muttermund leicht geöffnet ist. Rovena muss ab sofort im Bett liegen - viel Bewegung könnte für das Kind gefährlich sein. In den Tagen darauf organisiert Alex für Rovena ein Zimmer auf der Frühchenstation im Krankenhaus in Potsdam. Alex kommt jeden Tag nach der Arbeit zu ihr. Er bleibt, bis das Krankenhaus um 22 Uhr für Besucher schließt. Rovena traut sich bald nicht mehr aufzustehen. Ihre Muskeln bilden sich zurück. Schließlich versichern ihr die Ärzte, dass sie entlassen werden könne, doch Rovena möchte bleiben. Nach 18 Wochen wird sie zwangsentlassen. Am 4.Januar 2019 kommt Erik gesund auf die Welt. Als der Säugling in seinem Zuhause in Teltow eintrifft, zieht auch die Angst mit ihm ein. Rovena wird nicht mehr von ihrem Kind weichen, es beschützen, bemuttern, erdrücken. Schon während der Schwangerschaft hatte sich Alex um eine Hebamme gekümmert, eine Freundin von ihm. Sie soll Rovena nun mit dem Kind unterstützen. Die Arbeit mit Rovena sei schwierig gewesen, sagt die Hebamme heute. »Es war, als ob man gegen eine Wand spricht.« Rovena habe ihr viele verwirrende und immer wieder dieselben Fragen gestellt, vor allem über den plötzlichen Kindstod. Sie habe ihr gezeigt, wie man das Kind hält, wäscht und füttert. Beim Baden habe Rovena panische Angst gehabt, dass das Kind ihr aus der Hand rutscht, obwohl es in einer Plastikwanne saß. Anzeichen für eine Wochenbettdepression oder -psychose sieht die Hebamme nicht. Trotzdem bleibt sie nach den zwei Monaten Wochenbettbetreuung und wird Rovena noch ein ganzes Jahr lang begleiten. Seit der Zeugung hat Rovena Alex nicht mehr berührt. Ihm fehlen ihre Zuneigung, ihre Umarmungen, ihre Liebe. Rovena hat jetzt einen anderen Lebensmittelpunkt. In den ersten zwei Monaten nach der Geburt geht sie ~ein einziges Mal mit Erik an die frische Luft, aus Angst, dass er sich erkältet. Sie besucht keinen Rückbildungskurs, keine Krabbelgruppe, geht nicht auf den Spielplatz. Das alles und auch das Folgende sind Alex' Schilderungen, teils bestätigt in einem Gutachten vom Verfahrensbeistand des Familiengerichts des Amtsgerichts Potsdam-Mittelmark und der Hebamme, die Rovena unterstützt hat. Warum Rovena diese Dinge wohl getan hat, weiß niemand. Mit ZEIT Verbrechen wollte Rovena nicht sprechen. Rovena installiert eine Babykamera. Eriks Milchflaschen darf Alex ausschließlich mit gekochtem Mineralwasser desinfizieren. Mit einem Thermometer misst Rovena, ob die Milch in der Flasche die richtige Temperatur hat. Es muss auf den halben Grad genau stimmen. Nachts weckt Rovena das Kind vier- bis fünfmal auf, um Fieber zu messen. Vor dem Schlafengehen schnallt sie es mit einem Gurt am Kinderbett fest. Aus Angst, dass es sich in der Nacht auf den Bauch dreht und stirbt. Seit einiger Zeit schläft Alex auf der Couch. Heimlich macht er ein Foto davon, wie Rovena den Jungen mit dem Gurt festbindet. Er traut sich nicht mehr, etwas gegen ihre Methoden zu sagen. Zu viel haben sie bereits gestritten. Zu oft sei sie laut geworden, habe ihm gedroht. Einmal sei sie ihm mit dem Staubsauger hinterhergerannt und habe ihn damit geschlagen. Alex isst kaum noch. Seine Arbeitsklamotten schlackern um seinen Körper, seine Wangen sind eingefallen. Wenn er in den Spiegel schaut, sieht er einen Mann, einen Partner, einen Vater, der müde ist. »Sie hat mir den Jungen nie anvertraut. Sie wollte die absolute Kontrolle«, sagt Alex rückblickend. Auch seine Mutter Claudia bestätigt das: »Ich und mein Mann durften den Kleinen nicht mal auf den Arm nehmen oder mit ihm im Bett toben.« Als sie Rovena bei einem Nachsorgetermin begleitet, habe diese auf sie eingeredet, sie solle den Ärzten ja nicht erzählen, dass sie das mit dem Gurt mache. Ende 2020. Rovena fängt wieder an zu arbeiten. Sie müsse das doch nicht tun, er sorge doch für das Geld, versichert ihr Alex. Heute vermutet er, sie hätte nur gearbeitet, um Geld für ihre Flucht zu sparen. Rovena gerät mit den Kollegen im Labor regelmäßig aneinander. Kurze Zeit später wird sie gefeuert. Auch ihren zweiten Job verliert sie, laut Alex fristlos. Die beiden mieten eine große Dreizimmerwohnung - mit Fußbodenheizung, weil Rovena das so gerne mag. Dort werde alles besser, hofft Alex. Die Wohnung ist direkt gegenüber einer Kindertagesstätte, Erik bekommt sein eigenes Zimmer. Die Miete können sie sich kaum leisten. Rovena verbringt Stunden hinter der verschlossenen Schlafzimmertür mit Erik. Ihrem »kleinen Teddy«, wie sie ihn nennt. Alex darf seinen Sohn kaum sehen. Bald bittet er Rovena, mit ihm zur Paartherapie zu gehen, sie möchte nicht. Er telefoniert mit dem Jugendamt und einer Familienberatungsstelle. Das geht auch aus einem späteren Schreiben des Jugendamts hervor. Später geht er allein bei der Beratungsstelle vorbei. Doch ohne Rovena könne die Familienberatung Alex nicht helfen. Bei Gesprächen über die Kinder müsse immer auch die Mutter dabei sein. An Silvester 2021 sieht Alex keinen anderen Ausweg mehr. Er trennt sich von Rovena und besorgt ihr eine Wohnung 800 Meter entfernt. Weil Alex sich die Wohnung allein nicht leisten kann, übernimmt sein Vater die Bürgschaft. Zweimal die Woche holt Alex seinen Sohn im Kindergarten ab, jede zweite Woche bleibt Erik von Freitag bis Dienstag bei ihm. In den Wochen darauf ruft der Hausmeister von Rovenas neuer Wohnung bei ihm an. Die Nachbarn würden sich über andauerndes Babygeschrei beschweren. Auch die Kindertagesstätte meldet sich bei Alex: Erik könne sich mit drei Jahren weder die Jacke noch die Schuhe selbst an und ausziehen und wäre in der Sprachentwicklung zehn Monate hinter den anderen Kindern zurück. Er würde sich beim Abholen auf den Boden werfen und nicht mit der Mutter nach Hause wollen. »Sie hat sich selbst als beste Mutter der Welt gesehen«, erzählt Alex heute. »Sie liebt Erik, aber auf eine falsche und gefährliche Art und Weise.« Damals möchte Alex seinen Sohn bei einem Frühförderverein anmelden. Doch dafür braucht er Rovenas Erlaubnis. Er vereinbart für den 14. März 2022 einen Termin beim Jugendamt. Gemeinsam sollen Maßnahmen für eine spezielle Förderung für Erik besprochen werden. Auch ein Psychologe soll anwesend sein. Als Rovena das mitbekommt, habe sie Alex und seiner Familie vorgeworfen, sie hätten das Jugendamt auf sie gehetzt. Am Morgen des 11. März fährt Alex seinen Sohn mit dem Schornsteinfegerbus in den Kindergarten. Zum Abschied habe Erik noch mal über die Autohaube gestreichelt und ihn umarmt, erinnert sich Alex, dann verschwand er hinter der Eingangstür. Wenige Stunden später holt Rovena ihren Sohn aus dem Kindergarten, steigt mit ihm ins Flugzeug und verlässt das Land. In ihrer Wohnung lässt sie das Licht brennen. Sie flieht über Italien nach Albanien. Bei der Ausreise prüfen die italienischen Zollbeamten Eriks Ausreisedokumente nicht gründlich - obwohl Albanien außerhalb der EU liegt. Erik, der den Nachnamen des Vaters trägt, hätte das Land ohne Geburtsurkunde eigentlich gar nicht allein mit der Mutter verlassen dürfen. Alex erfährt davon erst am nächsten Tag. »Wo bist du?«, schreibt er Rovena. Doch Rovena hat bereits ihre Nummer gewechselt und ihn auf allen Kanälen blockiert. Innerhalb von zwei Wochen besorgt Rovena ihrem Sohn die albanische Staatsbürgerschaft. Später meldet sie ihn telefonisch bei der Polizei in Berlin ab. Das alles, ohne dass Alex darüber informiert oder um Erlaubnis gefragt wird. »Auf dem Papier heißt Erik mit Nachnamen Herrmann, trotzdem wollten weder die deutsche Polizei, die Zollbeamten in Italien noch die Passbehörde in Albanien eine Sorgerechtserklärung sehen, keine Vollmacht, nichts«, sagt Alex. In den Wochen darauf schaltet die Familie Herrmann die Polizei ein. Erik wird nun über Interpol gesucht, gegen die Mutter läuft eine internationale Strafanzeige. Doch es passiert: nichts. Alex meldet sich beim Bürgeramt. »Wie können Sie nicht wissen, wo Ihre Frau ist, Herr Herrmann?«, soll ein Mitarbeiter ihm vorgeworfen haben. Auch die Kriminalpolizei will Alex nicht helfen. »Keiner fühlte sich dafür zuständig«, sagt Alex. Schon nach kurzer Zeit stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. »Der deutsche Staat, die Behörden, sie alle haben uns im Stich gelassen. Sie haben versagt.« Auf Nachfrage von ZEIT Verbrechen antwortet die Polizei, es dürfe zu dem Fall keine verfahrensinternen Auskünfte geben, und verweist an die Staatsanwaltschaft Potsdam. Vonseiten der Staatsanwaltschaft kam allerdings keine Rückmeldung. Auch das Bundesamt für Justiz geht nicht weiter auf Alex' Fall ein - sondern schickt lediglich eine allgemeine Zusammenfassung des HKÜ-Verfahrens. Alex hat keine Ahnung, wie es seinem Sohn geht, ob er noch lebt. Aus Verzweiflung schalten Alex' Eltern, Claudia und Micha, einen Privatdetektiv ein: Stefan Dudzus aus Berlin, einen Mann mit 40 Jahren Berufserfahrung und einer abgeschlossenen Pilotenausbildung. Er hatte schon mehrfach mit Kindesentführungen zu tun. Das seien mitunter die schwierigsten Aufträge, sagt er gegenüber ZEIT Verbrechen. Ein moralisches Minenfeld. Meistens gehe es nicht um das Wohl des Kindes, sondern um einen Beziehungsstreit, einen Krieg, der auf dem Rücken des Kindes ausgetragen wird. Was die Polizei und die Behörden nicht zu schaffen scheinen, möchte Dudzus selbst in die Hand nehmen. Er reist nach Bari, Italien, und überwacht Rovenas Eltern. Über eine anonyme Quelle erfahrt er, dass Rovena von dort aus mit einer Fähre nach Albanien übergesetzt ist. Drei Wochen fährt er durch Albanien, observiert Wohnblöcke, klopft bei Kindergärten an, fragt sich durch die Nachbarschaft. Er setzt sich mit einer albanischen Detektei in Verbindung. Irgendwann wird er fündig. In welcher Wohnung Rovena genau wohnt, weiß er nicht. Doch sie ist hier, in Durres. Alex schöpft Hoffnung. Im Mai bekommt er vom Amtsgericht Potsdam das Aufenthaltsbestimmungsrecht von Erik für Deutschland übertragen. Im Sommer leitet die Staatsanwaltschaft Potsdam ein Strafverfahren gegen Rovena ein. Auf der Website gofundme.com startet er parallel einen Spendenaufruf, um Gelder für die Reise, die Anwalts- und Gerichtskosten zu sammeln. Wie viel das Verfahren am Ende kosten wird, darüber ist sich die Familie zu dem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Kurze Zeit später erreichen Alex Anrufe seiner Freunde und Kollegen. Sie hätten Briefe und etliche Nachrichten auf Facebook bekommen von Rovena. Wie man es wagen könne, Geld an einen perversen, gewalttätigen Vater zu spenden. Die erste Gerichtsverhandlung, die im Juni 2022 angesetzt ist, kann nicht stattfinden. Der Grund: Alex bekam von der albanischen Behörde keine Benachrichtigung per Post zugeschickt. Auf Nachfrage antwortet der Richter, der Vater hätte sich doch informieren können - die Terminankündigung sei öffentlich ausgehängt worden. In einem Plexiglaskasten vor dem Gericht in Durres. Zur ersten Sorgerechtsverhandlung fliegt Alex Ende Oktober 2022 mit seiner Familie nach Albanien. Die Verhandlung zieht sich, es kommt zu keiner Einigung. Der Richter ordnet an, dass Alex seinen Sohn zumindest kurz sehen darf. Ein paar Tage später an einer Strandpromenade in Durres. Sonne fällt durch die Restaurantfenster, im Hintergrund läuft albanische Volksmusik. Eine Stunde lang darf Alex seinen Sohn besuchen, keine Minute länger. Als Erik seinen Vater sieht, rennt er vor ihm weg und versteckt sich unter einem Restauranttisch. Während Erik unter dem Tisch kauert, flüstert er Sätze auf Albanisch. »Den da will ich nicht«, wiederholt er immer wieder. Das Treffen filmt Rovena mit ihrem Handy. Als Beweis für das Gericht. Es liegt ZEIT Verbrechen vor. »Ich war tief verstört, dass mein Junge mich nicht erkannt hat. Ich war wie ein Fremder für ihn«, sagt Alex rückblickend. Erst als Alex schließlich den Feuerwehrrucksack hervorholt und die Matchboxautos und Gummibärchen auspackt, kommt Erik langsam unter dem Tisch hervorgekrabbelt. Einen Monat später, in dem Cafe in Durres: Zigarettenstummel werden in einem Aschenbecher ausgedrückt, Stühle zur Seite gerückt, dann verlässt die Gruppe gemeinsam das Cafe. Ganz vorn Alex. In einer halben Stunde beginnt die Verhandlung. Er möchte extrafrüh dort sein. Keiner spricht ein Wort, während sie die Straße zum Gerichtsgebäude überqueren und hoch in das oberste Stockwerk laufen. Vor einem der Gerichtssäle bleiben sie stehen. Pfennigabsätze klackern über den Marmorboden, Menschen in schwarzen Roben hasten von einem Raum in einen anderen. An der Wand prangt ein rotes Wappen mit schwarzem Adler. Frauen küssen sich auf die Wangen, Wärter führen einen Mann in Handschellen ab. Inmitten des Tumults Alex, der seine großen Hände knetet. »Du musst dem Richter sagen, dass du als Vater mit ihm sprichst. Von Mensch zu Mensch.« Die Anwältin, Brikena Kasmi, blickt ihn von unten an: »Sag ihm, er ist sicherlich selbst Großvater. Wie es für ihn wäre, wenn er seinen Enkel nie mehr sehen dürfte. Kannst du dir das merken?« Alex nickt, Tränen sammeln sich in den Augen. Eine zierliche Frau, groß, lange braune Haare, grüne Augen, kommt die Treppe hinauf. Rovena. Sie trägt Schuhe mit Absatz, ihre Lippen sind pink bemalt. Hinter ihr ein schnaufender Anwalt, dicht gefolgt von einem Mann in gelber Jacke. Alex steht wie eingefroren hinter seinen Eltern. Es wirkt, als wären Rovena und er zwei Fremde. Der Anwalt, der Rovena vertritt, ist ihr Onkel. Ein Mann, der dafür bekannt ist, die gesamte Unterwelt von Tirana und Durres zu vertreten. Mafiamitglieder, Diebe, Mörder. Alex' Vater begrüßt Rovena vorsichtig, doch sie bleibt stumm. Auch Alex schenkt sie keinen Blick. Der Mann in der gelben Jacke beugt sich zu Alex' Anwältin vor und flüstert ihr ins Ohr. Sie weicht zurück, ihre Augenbrauen ziehen sich für eine Sekunde zusammen. Dann verschwindet die Gruppe im Gerichtssaal und Alex mit ihnen. Es dauert eineinhalb Stunden, bis die Tür sich wieder öffnet und Alex mit gesenktem Kopf herausgelaufen kommt. Bis er sich wieder dort befindet, wo er am Anfang war: vor dem Gericht, ohne Kind. Der Richter hat erneut keine Entscheidung getroffen, da zu viele Dinge noch ungeklärt seien, und darum beschlossen, das Verfahren zu vertagen. Der neue Termin ist in zwei Wochen, zwei weitere folgen im Dezember 2022 und Januar 2023. Doch Alex hat kein Geld, um erneut nach Albanien zu fliegen. Nieselregen fällt vom Himmel. Die Anwältin schlägt vor, sich in einem Restaurant zu besprechen. Langsam setzt sich die Gruppe in Bewegung. Alex' Beine schleppen sich über den Asphalt. Dudzus, der Detektiv, geht als Letzter. »Wir werden verfolgt«, sagt er und nickt in die entgegengesetzte Richtung. Hinter ihm, etwas versetzt, laufen drei Männer. Als die Gruppe stoppt, halten auch sie an. »Lasst uns hier rein«, sagt Dudzus und biegt rechts in ein Restaurant ab. Die Gruppe setzt sich um einen viel zu kleinen, runden Tisch. Ein paar Männer stehen mit verschränkten Armen vor der Bar. Kalte Abendluft zieht durch die Plastikplanen. Dudzus' Blick wandert hin und her zwischen dem Eingang und den Männern vor der Bar. »Der Mann in der gelben Jacke war der Sohn des Anwalts«, unterbricht die Anwältin die Stille: »Er hat mir ins Ohr geflüstert, Rovena kenne Leute - sie wird harte Jungs auf mich ansetzen und mich plattmachen, wenn ich den Fall nicht fallen lasse.« Es sei nicht das erste Mal, dass ihr gedroht werde. Doch noch nie auf offener Straße und direkt ins Gesicht. Alex' Schultern hängen, das Gesicht hat er in seinen Händen vergraben. Die Dolmetscherin erklärt, was da im Gericht gerade passiert sei: Rovena würde auf Zeit spielen, und die Richter müssten sich mit Kleinigkeiten rumschlagen, wie mit dem Sorgerechtsbegriff. »In Albanien gibt es kein Wort für Sorgerecht, das Kind wird bei einer Trennung automatisch der Mutter zugesprochen«, sagt die Dolmetscherin. Allein für die Auslegung des Begriffs eine Einigung zu finden, würde viel Zeit kosten. Zeit, die sie nicht haben. Mit jedem Monat, der vergeht, wird Erik älter und Alex weniger sein Vater. Vor Gericht habe Rovenas Anwalt behauptet, Rovena habe hier einen festen Job und würde gut für Erik sorgen können. Der Privatdetektiv lacht auf. Er habe doch bereits vor Wochen belegt, dass Rovenas Arbeitsvertrag nicht echt sei. Er habe den angeblichen Arbeitgeber, einen Gemüsehändler, in Durres gesucht - einen Laden unter der angegeben Adresse konnte er nicht finden. Rovena habe vor Gericht ausgesagt, dass Alex in der Beziehung gewalttätig war und sie stalken würde, fährt die Dolmetscherin fort. Auch die Großeltern hätten Erik missbraucht, habe Rovena behauptet. Von dem Kind solle nun ein psychologisches Gutachten erstellt werden. Es ist nicht das erste Mal, dass Rovena derartige Vorwürfe gegen Alex erhebt. Seit ihrer Flucht hat sie auch gegenüber seinen Arbeitskollegen und Bekannten in Briefen und Facebook-Nachrichten behauptet, Alex sei ein schlechter Vater und habe sie sexuell missbraucht. Er weist diese Vorwürfe von sich: »Ich hätte meinem Kind und Rovena nie etwas angetan.« Laut Anwältin könne es sein, dass Alex warten müsse, bis das Kind neun Jahre alt ist und eine eigene Aussage vor Gericht dazu macht, wo er gerne leben würde. »Dann ist das Kind für uns verloren«, entfährt es Alex' Vater. Eine letzte Option bleibt Alex. Eine, die im ersten Moment verrückt und illegal klingt, rechtlich betrachtet aber einwandfrei ist. Sogar deutsche Anwälte hätten ihm dazu schon geraten: eine Rückentführung. Alex dürfte sein Kind aus Albanien mit nach Deutschland nehmen, ohne dass ihm etwas passiert. Denn Alex hat, wie auch Rovena, weiterhin das Sorgerecht. Nur hat er, im Gegensatz zu ihr, auch das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht für Erik. »Was kostet eine Flugzeugentführung?«, fragt Alex' Vater. Zahlen werden in den Raum geworfen, Köpfe geschüttelt. »Wir bräuchten eine gute Landebahn, auf der Straße geht das schlecht«, antwortet der Detektiv. Eine kleine Sportmaschine und ein versteckter Landeplatz etwas außerhalb der Stadt, das wäre die beste Option, rät er. Er hätte kein Problem, das Ding zu fliegen, laut seiner Pilotenausbildung dürfe er sogar einen Jumbojet steuern. Die Frage sei nur, wie man an das Kind kommt. Der Plastikvorhang des Wintergartens öffnet sich. Die drei schwarz gekleideten Männer von der Straße betreten das Restaurant. Jeder von ihnen setzt sich einzeln an einen der runden Tische, die um die Gruppe herumstehen. Sie bestellen nichts. »Zeit zu gehen. Ich fühle mich hier nicht wohl«, sagt die Anwältin und steht auf. Ein wenig später, zurück im Hotel. Das Meer vor den Fenstern glänzt schwarz, der Nieselregen hat sich in dicke Tropfen verwandelt, die gegen die Scheiben peitschen. Alex' Mutter Claudia liegt im Zimmer auf dem Bett, Alex sitzt neben ihr auf seinem Beistellbett, das für seine langen Gliedmaßen lächerlich wirkt. »Weißt du«, sagt Claudia, während sie die Raufasertapete vor sich anstarrt: »Zu meinen Freundinnen habe ich in der Vergangenheit gesagt, dass ich Rovena hasse. Heute weiß ich, dass sie ein armer, kranker Mensch ist. Ich habe keine Wut und keinen Hass mehr, ich möchte einfach, dass das alles vorbei ist.« Alex hält einen Bleistift und einen Notizzettel in seiner Hand. Er möchte einen Spendenaufruf an seine Schornsteinfegerkollegen formulieren. Er kann nicht aufgeben. Nicht heute. Claudias Handybildschirm leuchtet auf. Auf dem Hintergrund grinst ein blonder Junge mit Pausbacken. »Das war bei uns im Garten«, sagt sie und lächelt. 73.000 Euro hat die Familie bereits in das Verfahren investiert. »Micha sagt immer, es ist doch für das Kind.« Doch wenn es so weitergehe, müsse bald das Haus dran glauben. Die Situation sei ausweglos. »Wir wissen nicht, welche Beziehungen Rovena noch hat«, sagt Claudia. Im schlimmsten Fall müsste Alex in Deutschland untertauchen, seinen Namen ändern und seinen Job aufgeben. Dabei ist seine Arbeit das, was ihn am Laufen hält - das Putzen von Schornsteinen, die Gespräche mit Kunden, die langen Tage -, das ist alles, was er noch hat. Schluchzen. »Ich kann das alles nicht mehr«, wimmert Alex, die Beine angezogen: »Rovena nimmt mir alles. Sie will mich vernichten.« Er wolle sein Kind doch nur wieder zurückhaben, mit ihm mit Matchboxautos spielen und gemeinsam abends Sandmännchen anschauen. Der Stift fallt ihm aus der Hand und kullert zu Boden. Claudia nimmt Alex ausdruckslos in den Arm. 4. Januar 2023, Eriks Geburtstag. Vor genau einem Jahr war dieser Tag noch einer der glücklichsten in Alex' Leben. Er half seinem Jungen, die Kerzen auszublasen, und jagte ihn mit einem viel zu großen Schornsteinfegerhut auf dem Kopf durch das Haus seiner Großeltern. Heute, an diesem grauen Mittwochnachmittag, gibt es keinen Kuchen und kein Singen. Das Wohnzimmer ist gefüllt mit Stille. An der Wand steht ein Tisch, der an einen Schrein erinnert. In der Mitte, zwischen einem Stickerbuch, einem Kalender mit Bildern von Alex und Erik und einer brennenden Kerze, liegt eine Geburtstagskarte: »Für unseren kleinen Liebling, Erik. Wir denken heute mit vielen Tränen an dich. Du hast heute deinen 4. Geburtstag, und deine Mutter hat dich aus Deutschland entführt und versteckt dich. Wir lieben dich alle sehr und denken jeden Tag an dich. Du warst ein sehr glückliches Kind. Dein Papa, deine Oma, dein Opa und die ganze Familie.« Inzwischen hat das Gericht in Durres beschlossen, dass die Verhandlung über das Sorgerecht für Erik im September 2023 stattfinden soll. Dann wird Alex mehr als 18 Monate ohne seinen Sohn gelebt haben.

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